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Marketing Attribution richtig verstehen: Multi-Touch vs. Last-Touch Models

Die Customer Journey korrekt tracken für bessere Marketing-Entscheidungen

25. Januar 202414 Min. LesezeitCURTN Team

2019 führte eBay ein bemerkenswertes Experiment durch: Sie stoppten komplett ihre Google-Paid-Search-Kampagnen für Brand-Keywords. Millionen-Budget auf null. Was passierte? Der Traffic brach nicht ein. Die Verkäufe blieben stabil.

Jahre lang hatte ihr Attribution-System Google Ads Credit für diese Conversions gegeben. Menschen die "eBay" googelten, eine Ad sahen, klickten und kauften. Das System zählte: Google Ads funktioniert! In Wahrheit: Diese Menschen wären auch ohne Ad direkt zur Website gegangen.

Das ist nicht nur ein eBay-Problem. Es ist ein fundamentales Attribution-Problem. Wir verwechseln "danach passiert" mit "dadurch passiert". Und bauen Millionen-Entscheidungen auf diesem Denkfehler auf.

Warum wir so verzweifelt an Attribution glauben wollen

Menschen sind Muster-Erkennungs-Maschinen. Wenn B nach A passiert, war A die Ursache. Das funktioniert gut für einfache Systeme: Schalter drücken → Licht geht an. Marketing ist kein einfaches System.

Stell dir einen typischen B2B-Kaufprozess vor: Ein Entscheider sieht über 6 Monate verteilt drei LinkedIn Ads, liest zwei Whitepaper, besucht ein Webinar, erhält fünf Nurturing-E-Mails, sieht Retargeting Ads, hört den CEO in einem Podcast, spricht mit einem Kollegen der gute Erfahrungen gemacht hat. Dann kauft er.

Die unmögliche Frage: Welcher dieser Touchpoints "verursachte" den Kauf? Attribution-Modelle geben eine Antwort. Aber sie beantworten nicht die Frage – sie verstecken, dass die Frage fundamental unbeantwortbar ist.

Das Problem: Kaufentscheidungen sind emergent, nicht additiv. Du kannst nicht die "Beiträge" einzelner Touchpoints addieren und bekommst dann die Kaufentscheidung raus. Das System ist komplexer als die Summe seiner Teile.

Last-Click ist naiv falsch. Multi-Touch ist komplex falsch.

Last-Click Attribution: Der letzte Touchpoint vor dem Kauf bekommt 100% Credit. Simpel. Messbar. Fundamental falsch. Niemand kauft B2B-Software für €50.000 weil er eine Google Ad geklickt hat.

Also entwickelten wir Multi-Touch Attribution. Linear: Jeder Touchpoint bekommt gleich viel. U-Shaped: First und Last bekommen je 40%, der Rest teilt 20%. Time-Decay: Spätere Touchpoints bekommen mehr Weight. Data-Driven: Machine Learning "berechnet" echte Beiträge.

Klingt wissenschaftlich. Ist es nicht. Hier das Problem: Kaufentscheidungen sind nicht linear.

Die Annahme dass du Touchpoint-Werte addieren kannst (20% + 30% + 50% = Kauf) ignoriert Wechselwirkungen. Ein LinkedIn-Post allein bewirkt nichts. Ein Webinar allein bewirkt nichts. Aber LinkedIn-Post → dann zufällige Empfehlung → dann Webinar = plötzlich Kauf. Das ist **emergentes Verhalten**, nicht additive Beiträge.

Multi-Touch Attribution tut so als könne man komplexe, nicht-lineare Wechselwirkungen durch Gewichtungs-Formeln erfassen. Das ist Wunschdenken, keine Wissenschaft.

Attribution misst Sichtbarkeit, nicht Kausalität

Hier ist was Attribution-Modelle wirklich tun: Sie messen welche Touchpoints du tracken kannst. Nicht welche wichtig waren. Welche messbar waren.

Gartner fand 2021 heraus dass im B2B-Kontext nur etwa 5% der Buying Journey online und trackbar stattfindet. 95% passiert offline: Gespräche mit Kollegen, interne Meetings, WhatsApp-Gruppen, Zufalls-Begegnungen auf Konferenzen, Empfehlungen, Podcast-Erwähnungen die niemand trackt.

Dein Attribution-Dashboard zeigt die 5% die du siehst. Und darauf basierst du Budgetentscheidungen.

Die Dark Social Realität:

Stell dir vor: Jemand hört deinen CEO in einem Podcast und denkt "Interessant, die Typen verstehen's". Später erzählt er einem Kollegen davon per WhatsApp. Der Kollege googelt euer Unternehmen, liest ein paar Artikel, besucht die Website – und ab hier trackt dein System mit. Er spricht intern mit seinem Team darüber (kein Tracking). Drei Wochen später klickt er zufällig eine LinkedIn Ad von euch (wird getrackt!). Noch eine Woche später kauft er.

Dein Attribution-Dashboard zeigt: Website-Besuch 40%, LinkedIn Ad 60%. Diese Zahlen sind nicht falsch, weil sie lügen. Sie sind falsch, weil sie nur zeigen was sichtbar war. Der Podcast-Trigger? Unsichtbar. Die WhatsApp-Empfehlung? Unsichtbar. Die internen Gespräche? Unsichtbar. Dein Dashboard kennt nur zwei Dinge: Website und LinkedIn. Also bekommt LinkedIn den Credit.

Attribution-Modelle sind wie Suchscheinwerfer in der Nacht: Sie beleuchten was sie beleuchten können. Der Großteil der Landschaft bleibt im Dunkeln. Und wir treffen Entscheidungen basierend auf dem beleuchteten Ausschnitt.

Entscheidungs-Theater für Stakeholder

Wenn Attribution so problematisch ist – warum investieren Unternehmen Millionen in Attribution-Software? Warum bauen CMOs ihre Strategien darauf auf?

Weil Unsicherheit psychologisch unerträglich ist. Besonders für Menschen die Millionen-Budgets verantworten.

Stell dir vor, du präsentierst deine Marketing-Strategie vor dem Board. Zwei Varianten:

  • Variante A (ehrlich): "Wir wissen nicht genau welche Kanäle wie viel beitragen. Marketing ist komplex mit vielen Wechselwirkungen. Wir machen educated guesses basierend auf Signalen und Erfahrung."
  • Variante B (Dashboard): "Basierend auf unserem Data-Driven Attribution-Modell hat Google Ads 37% zum Revenue beigetragen, LinkedIn 23%, Content Marketing 18%. Daher verschieben wir Budget von Content zu Performance-Kanälen."

Welche Variante klingt professioneller? Welcher CMO wirkt kompetenter? Welcher behält seinen Job?

Attribution als organisationale Sicherheit: Attribution-Dashboards erfüllen eine soziale Funktion – sie legitimieren Entscheidungen. Nicht weil die Zahlen präzise sind. Sondern weil Organisationen Rechtfertigungen brauchen. "Die Daten sagen..." ist eine akzeptable Begründung. "Mein Urteil sagt..." nicht.

Attribution-Modelle sind oft Entscheidungs-Theater. Sie geben das Gefühl von Kontrolle in unkontrollierbaren Umgebungen. Das ist nicht böswillig – es ist menschlich. Aber es ist wichtig, das zu erkennen.

Methoden die tatsächliche Kausalität messen

Es gibt Ansätze die echte Kausalität messen – nicht nur Korrelation berechnen. Sie sind aufwendiger. Sie liefern keine Echtzeit-Dashboards. Aber sie sind ehrlich.

1. Inkrementalitäts-Tests (wie eBays Experiment):
Du schaltest einen Kanal in Region A komplett ab, lässt ihn in Region B laufen. Nach Wochen vergleichst du die Ergebnisse. Das ist echte Kausalitäts-Messung – kontrolliertes Experiment statt Berechnung.

2. Marketing Mix Modeling:
Statistische Modelle die historische Daten nutzen um Zusammenhänge zu erkennen. Geben Confidence Intervals statt präziser Prozentangaben. Ehrlich über Unsicherheiten.

3. Hold-Out Groups:
Kontrollgruppen die bewusst von Marketing-Maßnahmen ausgeschlossen werden. Der Unterschied im Conversion-Verhalten zeigt echten Impact.

Warum nutzt das fast niemand? Weil diese Methoden Geduld erfordern. Keine Echtzeit-Dashboards. Keine präzisen Prozentangaben fürs nächste Board-Meeting. Sie geben ehrliche, unsichere Antworten statt beruhigend präziser Zahlen. Und in Organisationen ist Beruhigung oft wichtiger als Wahrheit.

Die Frage ist nicht ob diese Methoden besser sind – das sind sie. Die Frage ist ob du bereit bist, Unsicherheit auszuhalten für ehrlichere Antworten.

Attribution als Heuristik, nicht als Wahrheit

Das alles heißt nicht: "Nutze keine Attribution-Modelle." Es heißt: "Verstehe was sie sind und was nicht."

Attribution-Modelle sind Heuristiken. Vereinfachungen. Nützliche Näherungen in komplexen Umgebungen. Wie ein Kompass in dichtem Nebel – nicht präzise, aber besser als nichts.

Das Problem entsteht wenn wir vergessen dass es Näherungen sind. Wenn wir "Google Ads trägt 37% bei" als Fakt behandeln statt als grobe Orientierung.

Praktische Richtlinien:

  • • Nutze Attribution als schwaches Signal. Nicht als Offenbarung aus dem Datenhimmel. Es ist ein Indiz, keine Wahrheit.
  • • Kombiniere Zahlen mit echten Menschen. Frag deine Kunden direkt: "Wie hast du von uns erfahren?" Die Antwort wird dich überraschen.
  • • Triff keine Budget-Entscheidungen nur weil dein Dashboard sagt "LinkedIn 37%, Google 28%". Das ist Wahrsagerei, keine Strategie.
  • • Sei dir bewusst: 95% der Buying Journey passiert im Dunkeln. WhatsApp, Empfehlungen, Offline-Gespräche – alles unsichtbar.
  • • Investiere in echte Kausalitäts-Tests für wichtige Entscheidungen. Schalte Kanäle ab. Messe was wirklich passiert. Schmerzhaft, aber ehrlich.
  • • Wenn dir jemand sagt "This channel drives 34.7% of conversions" – renn. Präzision ist oft die Maske für Unwissenheit.

Der gefährlichste Moment ist wenn du denkst du verstehst das System. Attribution-Dashboards geben dieses Gefühl. Echtes Verständnis kommt aus der Akzeptanz dass komplexe Systeme nicht vollständig durchschaubar sind.

System-Denken statt Zahlen-Gläubigkeit

Wir bei CURTN sind AI- und Automation-Natives. Wir lieben Daten. Wir bauen Systeme die Prozesse messbar machen. Aber wir wissen auch: Nicht alles was messbar ist, ist wichtig. Und nicht alles was wichtig ist, ist messbar.

Marketing Attribution ist ein perfektes Beispiel für die Grenzen quantitativer Systeme. Kausalität in komplexen, nicht-linearen Umgebungen lässt sich nicht einfach berechnen. Algorithmen können das nicht lösen – sie können es nur verstecken hinter präzise klingenden Zahlen.

Die Lösung ist nicht bessere Attribution-Modelle. Die Lösung ist ein besseres Verständnis dafür, was Attribution kann und was nicht. Und die Bereitschaft, mit Unsicherheit umzugehen statt sie wegzurechnen.

Das ist unbequem. Es gibt keine einfachen Antworten. Aber es ist ehrlich. Und auf lange Sicht führen ehrliche Fragen zu besseren Entscheidungen als beruhigende Zahlen.

Häufige Fragen

Attribution ist wie ein Kompass in dichtem Nebel: nicht präzise, aber besser als nichts. Der Trick ist zu verstehen, dass Attribution-Modelle Heuristiken sind, keine Wahrheiten. Nutze sie als Orientierung, nicht als Orakel. Die Gefahr liegt nicht in der Nutzung, sondern im blinden Glauben an die Zahlen.

Last-Click ist naiv falsch. Multi-Touch ist komplex falsch. Beide versuchen lineare Kausalität in nicht-lineare Systeme zu pressen. Der Unterschied: Last-Click ignoriert Komplexität. Multi-Touch tut so als könne man sie berechnen. Beides verfehlt den Punkt, dass Kaufentscheidungen emergent sind, nicht additiv.

Weil Unsicherheit psychologisch unerträglich ist. Ein CMO der sagt "Wir wissen nicht genau welche Kanäle funktionieren" wirkt unprofessionell. Ein CMO mit ausgefeiltem Attribution-Dashboard wirkt kompetent – auch wenn die Zahlen illusorisch sind. Attribution ist oft Entscheidungs-Theater für Stakeholder.

Ja: Inkrementalität-Tests (Geo-Experiments), Marketing-Mix-Modelling, Hold-Out-Groups. Diese Methoden sind aufwendiger aber ehrlicher – sie messen tatsächliche Kausalität statt sie zu berechnen. Problem: Sie erfordern Geduld und liefern keine Echtzeit-Dashboards. Daher nutzen sie wenige.

Nutze sie als schwaches Signal, nicht als starke Wahrheit. Kombiniere mit qualitativen Insights (Kunden-Interviews), historischen Patterns und gesundem Menschenverstand. Triff keine großen Budget-Entscheidungen nur basierend auf Attribution. Nutze es als ein Input von vielen.

Lass uns über dein Marketing-System sprechen

Nicht über Tools. Nicht über Dashboards. Über das System dahinter. Über die Fragen die wirklich wichtig sind. Über ehrliche Antworten statt beruhigende Zahlen.

Tags: Marketing-Analytics Attribution Customer Journey ROI

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